„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lk 10,27).
Bereits in der hebräischen Bibel sind Gottesliebe (vgl. 5. Buch Mose 6,4–6) und Nächstenliebe (vgl. 3. Buch Mose 19,18) überliefert, doch Jesus betonte, wie wichtig Umkehr, Sinneswandel und Selbstverleugnung sind, um das „Gesetz der Propheten“ überhaupt erst richtig zu verstehen (vgl. Mt 22,40). Anders als seiner Umgebung ging es Jesus viel weniger um den rituellen Gottesdienst mit seinen Blutopfern im Tempel als vielmehr um ethisches Handeln im Alltag, dessen Wirkungen an den guten Früchten zu erkennen sind (vgl. Mt 7,16).
Denn wenn wir für eine bessere Welt mit den Früchten Frieden, Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit eintreten, müssen wir laut dem galiläischen Juden Jesus, das Gute bewusst wählen (vgl. Lk 10,38–42). Leider hat uns Jesus keine spirituelle Praxis hinterlassen, mit der wir systematisch in den Sinneswandel kommen. Nichtsdestoweniger wissen wir aus den Evangelien, dass sich Jesus, auch in seinen dunkelsten Stunden im Garten Gethsemani und bei seiner Kreuzigung, konsequent vom „Gesetz der Propheten“ leiten ließ und er die Nächstenliebe auf das Schwierigste zugespitzt hatte: auf die Feindesliebe.
Wie hängen nun Feindesliebe, Selbstliebe und Yoga zusammen? Zunächst einmal: Das yogische Prinzip der Gewaltlosigkeit und Friedensliebe, das durch Patañjali als Ahimsa bekannt ist, kann von christlich orientierten Yoginis und Yogis durchaus auch von Jesus von Nazareth her interpretiert werden. Was dabei die von ihm geforderte Umkehr betrifft: Wir kehren in der Yoga-Praxis tatsächlich (in uns) um, sowohl in den Asanas als auch in der Meditation, eingedenk der vorbereitenden Atem- und Konzentrationsübungen, aus denen ein Großteil des achtgliedrigen Pfads des Patañjalis besteht.
Entsprechend wirst du dir in deiner Yoga-Praxis deiner Prägungen, Bedürfnisse und Grenzen bewusst; du lernst dich mit der Zeit tiefer und tiefer kennen und lieben, ohne dich dabei wichtiger zu fühlen, als es dein Nachbar auf der Yogamatte ist. Indem du ein gesundes Selbstbewusstsein im Sinne von Sich-selbst-bewusst-sein entwickelst, erkennst du, dass deine Selbstliebe sogar eine Voraussetzung für die Nächstenliebe ist. Denn in der Yoga-Praxis spüren wir an unserem unruhigen Atem, an unserer verbrauchten Energie, an den erschöpften Muskeln oder den überreizten Sinnen, wenn unsere Liebe nicht mehr richtig fließt und wir eine Zumutung für unser Umfeld geworden sind; dann gilt es, die körperlichen, emotionalen oder mentalen Widerstände bzw. Blockaden in unsere Praxis hineinzunehmen, bewusst wahrzunehmen und mit dem Ausatem loszulassen. Dadurch, dass du dir Zeit und Raum für dich selbst und deinem Atem nimmst, wirst du dir deiner lebenshinderlichen Muster bewusst, die dich in deinem Alltag daran hindern, liebevoll und gerecht zu handeln oder geduldig mit deinem Gegenüber zu bleiben. Du lernst, wenn du selbst egoistisch handelst, kannst du anderen ihren Egoismus nicht zum Vorwurf machen.
Hier lohnt sich die Beschäftigung mit jüdischer Theologie. „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du selbst“ (20177: 74), so hat der jüdische Gelehrte David Flusser (1917–2000) in seinem Jesusbüchlein das Gebot von Moses aus dem biblischen Hebräisch übersetzt. „Liebe deinen Nächsten – er ist wie du“, soll auch der jüdische Philosoph Martin Buber (1878–1965) übersetzt haben. Das bedeutet nicht, dass uns der Nächste gleicht wie ein Ei dem anderen, – wir sind qua Geburt ein individuelles Bündel aus genetischen Prägungen, familiären Mustern und gesellschaftlichen Konventionen –, doch wir erkennen an, dass unser Nächster ebenso mit seinem Ego zu kämpfen hat und sich von ihm her lieblos und ungerecht, manchmal auch nur komisch oder irgendwie anders, verhält.
Dabei ist das sogenannte Ego nicht nur eine Erfindung fernöstlicher Weisheitslehrer, sondern der Begriff Ego umreißt ein psychologisch und neurobiologisch untersuchtes Phänomen der menschlichen Natur, das auch Jesus schon beobachtete. Desidentifikation vom Ego ist der moderne Ausdruck dafür, was Patañjali antreibt, wenn er im Yogasutra die Unterscheidung des meinenden vom sehenden Selbst empfiehlt. Jesus sprach in diesem Zusammenhang von Selbstverleugnung als Voraussetzung, ihm in seiner Liebesethik nachzufolgen (vgl. Mk 8,34; Mt 16,24; Lk 9,23; Joh 12,26). Dem Katechismus der katholischen Kirche ist Selbstverleugnung zwar auch ein Begriff, aber weder das Werk noch Pfarrer vermitteln im Verkündigungsalltag eine meditative Praxis, die erklärt, wie wir den Griff des Egos lockern können. Und christliche Angebote wie die Kontemplation, das Herzensgebet oder die ignatianische Spiritualität sind im kirchlichen Alltag weitestgehend unbekannt. Hier kann die Yoga-Praxis mit ihrem körperbetonten Ansatz eine Hilfe sein: Heraus aus der Passivität, hinein in eine aktive Umkehr!
Wie wir an den Krisen unserer Zeit unschwer erkennen können: Die Verantwortung für unser Handeln wartet seit über 2000 Jahren geduldig darauf, dass wir sie ergreifen. Wenn dann durch die Umkehr die Selbstliebe heranreift und wir für unser Handeln Verantwortung übernehmen, können Konflikte leichter entschärft, Vorurteile überwunden oder Ängste als unbegründet entlarvt werden. Oder wir respektieren den Nächsten von vornherein als ein göttliches Geschöpf. Dann sehen wir hinter seinem Handeln, wie auch immer es ausfallen mag, sein wahres Selbst, das in Gott gründet. – So tief blickte Jesus. (jw)