Mehr als Atemluft: Prana und Ruach

Für die meisten Lebewesen auf der Erde ist der Atem fundamental. Wenn Yoginis oder Yogis überhaupt von Fundamentalismus sprechen, dann bitteschön nur in diesem Zusammenhang: Wir sind total abhängig von der Atemluft, die so viel mehr ist als nur ein Gasgemisch aus hauptsächlich Stickstoff, Sauerstoff und anderen Edelgasen.

 

Darüber hinaus ist der Atem die Verbindung zwischen dem Raum in uns (Lunge, Körper-zellen) und dem Raum um uns herum. Der Atem ist es, der uns belebt, beseelt und uns energetisiert. Und der Atem verbindet uns genauso mit dem Amazonas-Regenwald wie mit dem Pfälzerwald oder einem Baum vor deinem Fenster.

 

In der Yoga-Praxis ist der Atem zentral. Mit Atemübungen (Prāṇāyāma) führen wir Körper und Geist zusammen. Prana wird mit Atem, Lebensenergie oder Vitalenergie übersetzt, als „subtile Kraft hinter dem Atem“¹, eine Art verborgene Lebenskraft, die uns ohne unser Zutun am Leben erhält.

 

Im hebräisch-jüdischen Kontext gibt es diese geheimnisvolle Lebenskraft auch. Sie wird mit dem hebräischen Begriff Ruach (rûaḥ) assoziiert. Wie bei dem Sanskrit-Wort Prāṇā gibt es keine Eins-zu-Eins-Übersetzung, aber Atem, Wind, dynamische Lebenskraft und Lebensenergie sind die gängigen Übersetzungen². Für Hebräerinnen und Hebräer war klar: Gott ist so nah, wie die Luft, die sie einatmen. Und: Der Mensch ist ein lebendiges Wesen, weil ihm Gott den Lebensatem in die Nase blies (vgl. 1 Mo 2,7).

 

Im Christentum wurde aus Ruach durch den Gebrauch griechischer und lateinischer Sprache der Heilige Geist, der zudem im Laufe theologischer Auseinandersetzungen personalisiert wurde und die überpersönliche Bedeutung von Ruach in den Hintergrund drängte. Sie gewinnt aber durch die Meditation (Dhyāna), die das Wesen des achtglied-rigen Yoga-Pfads ist, auch im christlichen Umfeld wieder zunehmend an Bedeutung³. Nicht nur für die Meditation, auch für die Asana- und Pranayama-Praxis ist der Atem das A und O: Wir beobachten, lenken, synchronisieren und rhythmisieren den Atem, je nachdem, worauf die Yoga-Lehrenden ihren Fokus in einer Übungsabfolge (Karana) legen. Außer bei den energetisierenden Atemtechniken wird gemäß Patañjali der Atem stets fein und lang geführt. (jw)

 

 


¹ Sriram, R. (2006): Patañjali. Das Yogasutra. Von der Erkenntnis zur Befreiung, Bielefeld: Theseus in Kamphausen Media GmbH, S. 93.

 

² Vgl. Prof. Dr. Siegfried Zimmer in einem Worthaus-Vortrag über Ruach, [online] https://worthaus.org/mediathek/was-wir-aus-dem-alten-testament-ueber-den-heiligen-geist-lernen-koennen-11-7-1/ [12.10.2023]

 

³ Hier können die Kontemplation, die an die christliche Mystik anknüpft, das Herzens- oder Jesusgebt der orthodoxen Kirchen sowie benediktinische, karmelitische oder ignatianische Spiritualitätsformen genannt werden, die jedoch im Alltag von Pfarrgemeinden kaum eine Rolle spielen. Hier versteht sich Yoga for Christ als eine Spiritualität für alle, die weder eine theologische noch konfessionelle Vorbildung benötigt.